Anisokorie – Busting the Myth

Die Anisokorie wurde uns als typisches Zeichen eines erhöhten intrakraniellen Drucks eingebläut. Allerdings bedeutet eine Anisokorie nicht automatisch ein Hirndruck-Problem.

„Der Patient hat eine Pupillendifferenz, wir müssen schnell ins CT!“

Es wäre bestimmt sicherlich spannender, wenn alle Anisokorie Patient*innen zerebral einklemmen würden, aber auch doch ein bisschen zu stressig. Glücklicherweise ist dies meistens nicht der Fall. Ärgerlich ist es nur, wenn die (oft jungen) Patient*innen schon eine ordentliche Dosis Strahlen beim CT abbekommen haben. Auch Transporte unter Sondersignal zur Neurologie/ Neurochirurgie sind mit einem erhöhten Unfallrisiko behaftet.

Mechanismus der Anisokorie bei erhöhtem intrakraniellen Druck:

Wenn im Kopf irgendetwas (Blutung, Tumor, Ödem, usw.) Druck verursacht, der so groß ist, dass Anteile des Gehirns nach unten drücken, dann drückt das Gehirn auf den N. okulomotorius. Die parasympathischen Fasern des N. okulomotorius verlaufen weit außen und dorsal. Deswegen werden sie bei Druck als erstes geschädigt. Durch den Ausfall des Parasympathikus kommt es zu Mydriasis (vergrößerte Pupille) ipsilateral (auf der Seite der Schädigung). Wir sprechen dabei von so großen Pathologien im Kopf, dass es praktisch nie zu einer isolierten Anisokorie kommt. Typischerweise sind weitere neurologische Ausfälle, wie Vigilanzstörung, Hemiparese oder Verhaltensstörungen, zu beobachten. Bei Anisokorie mit Vigilanzminderung und/oder neurologischen Defiziten sollte zeitnah ein cCT erfolgen!

Merke: Bei Bewusstseinsstörung immer in die Pupillen schauen!

“Unterscheiden sich die Pupillen in ihrer Größe ist die Unterscheidung wichtig, welche anomal ist. Häufig wird der Fehler gemacht, nach der Ursache einer erweiterten Pupille auf der einen Seite zu suchen, da die größere Pupille immer beeindruckender ist (…).“

J. Patten

Warum schaut denn die Neurologin überhaupt bei allen Patient*innen auf die Pupillenreaktion? Weil die Pupillenfunktion wertvolle Infos auch bei anderen (ggf. notfallmedizinisch nicht relevanten) Krankheitsbildern liefert.

Ursachen einer Anisokorie

  • Schädel-Hirn-Trauma
  • Subduralhämatom
  • Epiduralhämatom
  • Subarachnoidalblutung
  • Akuter Glaukomanfall
  • Intrakranielle Hypertension
  • Aneurysma der Arteria cerebri posterior
  • Horner-Syndrom
  • Akute Ischämie des N. oculomotorius
  • Karotisdissektion
  • Schlaganfall
  • Migräne
  • Clusterkopfschmerz
  • Tumore des Hirnstamms
  • Hirnabszess
  • Multiple Sklerose
  • Meningitis
  • Enzephalitis
  • Medikamenten- oder Drogeneffekte (z. B. Atropin, Kokain)
  • Trigeminusneuralgie
  • Physiologische Anisokorie (häufig bei gesunden Menschen)
  • Refraktive Fehler (z. B. unterschiedliche Hornhautkrümmung)
  • Pupillenreaktion auf Lichtveränderungen (z. B. bei Lichtquelle aus einer bestimmten Richtung)
  • Augenentzündungen (z. B. Uveitis)
  • Akkommodationsstörungen (z. B. bei Nah- oder Fernsicht)

Die wichtige Frage ist also: was machen wir, wenn uns eine Anisokorie, ggf. mit aufgehobener Lichtreaktion, auffällt? Wir interpretieren!

Notfallmedizinisch relevante Krankheitsbilder mit Anisokorie

Erhöhter intrakranieller Druck

Die Pupille ist auf der Seite des erhöhten Druckes größer. In den meisten akuten Fällen ist eine Blutung ursächlich, aber auch Tumoren oder Ödeme können zugrunde liegen. Typische Begleitsymptome bei intrakraniellen Blutungen sind Hemisymptome (Hemiplegie oder Hemihypästhesie), Bewusstseinsstörungen, Cushing-Reflex (Bradykardie und Hypertonie), Hypertonie oder weitere fokale Symptome. Prozedere: Schnellstmöglich CT nach Sicherung der Vitalfunktionen.

Isolierte Anisokorie als Symptom einer ICP Erhöhung praktisch nie.

Commotio cerebri (Gehirnerschütterung)

Durch die Erschütterungen werden Funktionsstörungen aufgrund diffuser Schädigungen der Nervenfasern ausgelöst. Eine Blutung liegt nicht vor. Typische weitere Symptome sind Amnesie (ante- und retrograd) und kognitive Störungen. Prozedere: cCT zum Ausschluss einer Blutung; bei Auftreten von Symptomen (inklusive Anisokorie) stationäre Beobachtung bis zur Rückbildung der Symptome. Bei Anisokorie nach Schädel Hirntrauma ist nach den modifizierten Denver-Kriterien die Indikation zur CT-Angiographie der Hals- und Kopfgefäße gegeben zum Ausschluss einer Verletzung der A. vertebralis.

Horner-Syndrom

Die erkrankte Seite ist die Seite der kleinen Pupille. Typische Symptomtrias: Anisokorie + Ptosis + Enophthalmus. Auslöser ist ein Ausfall der sympathischen Innervation des Auges. Notfallmedizinisch relevante Ursachen sind Dissektion der A. carotis, Hirnstamminfarkt in bestimmter Region (z.B. Wallenberg-Syndrom), Traumata. Prozedere: Stroke work-up

Akuter Glaukomanfall (primäres Offenwinkelglaukom)

Ein erhöhter Augeninnendruck kann zu einer Pupillenveränderung führen, wobei die Pupille meist auf der betroffenen Seite vergrößert ist und nicht reagiert. Die Patienten haben in aller Regel auch starke Augenschmerzen und Sehstörungen. Der Augapfel ist auf der Seite deutlich verhärtet. Prozedere: Notfallmäßige augenärztliche Vorstellung, Analgesie, Augeninnendrucksenkung mit Acetazolamid.

Andere akute Erkrankungen des Nervus okulomotorius

Die „erkrankte“ Pupille ist in aller Regel größer. Manchmal wird dies durch eine vollständige Ptosis (Herabhängen des Lides) verdeckt. Meistens tritt auch eine Fehlstellung des Auges nach außen unten (Lähmung der vom N. okulomotorius innervierten Augenmuskeln) mit daraus resultierender Diplopie auf. Mögliche Ursachen sind Sinusthrombose des Sinus cavernosus, Carotis-Sinus-Fistel (Zwischen A. carotis interna und Sinus cavernosus), Erkrankungen der Hirnhäute (Meningitis, Sarkoidose), Tumoren.

Akute Ischämie des N. opticus

Eine leichte Anisokorie mit mangelnder Reaktion auf Licht kann durch eine plötzliche Durchblutungsstörung des N. opticus (II. Hirnnerv) entstehen. Häufiger sind die Pupillen hierbei gleich groß, die Lichtreaktion aber bei Beleuchtung des erkrankten Auges, sowohl direkt als auch konsensuell, deutlich weniger bis nicht vorhanden (relativ afferenter Pupillendefekt). Dies kann eine Anisokorie vortäuschen. Meistens beklagen die Patienten Blindheit oder teilweise Blindheit auf dem betroffenen Auge. Manchmal werden die Sehstörungen „wie ein Vorhang“ von oben ins Sichtfeld beschrieben. Die Durchblutungsstörung kann durch eine Riesenzellarteriitis bedingt sein, hier treten zusätzlich Symptome wie Schmerzen beim Kauen/Essen/temporaler Berührung, Gewichtsabnahme, Krankheitsgefühl auf. Procedere: Stroke work-up.

Migräne

In seltenen Fällen kann eine Migräne mit einer Anisokorie einhergehen. Die Patient*innen weisen weitere typische Migräne-Symptome wie Kopfschmerzen, Photo- und Phonophobie, Übelkeit/Erbrechen, Ruhebedürfnis auf. Die Anisokorie ist zusammen mit der Migräne rückläufig. Bei klassischer Symptomatik bedarf es keiner weiteren Diagnostik.

Medikamenten- oder Drogeneffekte

Einige Medikamente (z. B. Anticholinergika, Atropin, Kokain) oder Drogen (z. B. Amphetamine) können die Pupillenreaktion beeinflussen und eine Anisokorie verursachen. Es werden weitere Symptome der Intoxikation beobachtet, zum Beispiel Agitation, Halluzinationen, Schwitzen, Tachykardie, Hypertonie. Procedere: Behandlung der Intoxikation.

Aneurysma der Arteria cerebri posterior

Ein Aneurysma im Bereich der Arteria cerebri posterior kann den Nervus oculomotorius komprimieren und eine Anisokorie verursachen. Procedere: cCT+CTA. Bei Aneurysmaruptur Blutdrucksenkung und unmittelbare neurochirurgische/ neuroradiologische Zuführung.

Fazit

Ein wacher, neurologisch unauffälliger Patient mit Anisokorie hat kein Hirndruckproblem! Ein wacher, neurologisch auffälliger Patient mit Anisokorie bedarf weiterer Diagnostik.

Ausgewählte Literatur

  1. Diener H. et al. Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 8. Auflage Stuttgart: Kohlhammer; 2023
  2. Hufschmidt A., Rauer S., Glocker F. Neurologie compact. 9. vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart, Thieme; 2022
  3. Patten J. Neurologische Differentialdiagnose. 2. Auflage, Springer Verlag Berlin, Heidelberg; 1998

 


Haftungsausschluss

Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position der*s Autor*in dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von akutneurologie.de.

Schreibe einen Kommentar