Psychogene nicht-epileptische Anfälle: zwischen Kopf und Körper

Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA) stellen – gemeinsam mit der konvulsiven Synkope – die wichtigste Differentialdiagnose zum epileptischen Anfall dar. Das Vorgehen und die Therapie unterscheiden sich jedoch in beiden Krankheitsbildern erheblich. Eine korrekte Diagnosestellung ist daher von zentraler Bedeutung, besonders weil viele akutmedizinische Maßnahmen für die Betroffenen ein relevantes Risiko bergen können.

Die größte Gefahr bei PNEA ist die unnötige Behandlung durch Notfallfachpersonal.

Definition

PNEA sind Anfälle, die epileptischen Anfällen manchmal täuschend ähnlich sehen können, aber eine psychogene Ursache haben. Bei PNEA liegt keine epileptische Aktivität – sprich synchronisierte Entladung von Neuronen im Gehirn – vor. Sie gehören zu den funktionellen neurologischen Erkrankungen (FND: functional neurological disease). Die Anfälle sind quälend für die Patient*innen, denn sie verlieren die Kontrolle über den eigenen Körper.

PNEA stellen keine lebensbedrohliche Situation dar. Das Risiko für Verletzungen ist gering.

Zugrunde liegender Mechanismus bei PNEA ist eine Dissoziation. Diese Abspaltung von der Umwelt dient als Schutzmechanismus nach Erleben eines bedrohlichen Reizes. Eine Dissoziation an sich ist nicht krankhaft; sie kann in sehr belastenden Extremsituationen (z. B. nach einem Autounfall) vorkommen und hat hier eine Schutzfunktion. Pathologisch wird dieses Phänomen, wenn es häufig und in unpassenden Situationen auftritt und das Leben der Patient*innen beeinflusst. Bei der Entstehung von PNEA spielen viele Aspekte eine Rolle: traumatische oder belastende Erlebnisse, Depression, Stress, genetische und soziale Faktoren, die eigene Biographie, aber auch Drogenkonsum, Schlafmangel und Dehydratation.

PNEA sind nicht willkürlich beeinflussbar und werden nicht „gespielt“.

Charakteristika

Es ist nicht immer einfach, PNEA von epileptischen Anfällen zu unterscheiden. An der Stelle muss auch erwähnt werden, dass Patient*innen mit einer Epilepsie durchaus zusätzlich PNEA haben können. Es gibt einige Charakteristika, die für eine psychogene Genese sprechen – Garantien gibt es allerdings nicht!

KategoriePNEA Charakteristika
Bewegungsmuster– Asynchrone / irreguläre Bewegungen
– Wechselnde Ausprägung / Lokalisation
– Modulierbar
– Zielgerichtete Bewegungen möglich
– Rhythmische Beckenbewegungen
– Opisthotonus
– Kopfschütteln
Muskeltonus & motorische Zeichen– Wechselnder Muskeltonus bei Untersuchung
– Offener Mund
– Areaktives Verharren
Augenbefund– Augen geschlossen bzw. zugekniffen
– Widerstand bei passivem Öffnen
– Pupillen reagibel
Vegetative/somatische Zeichen– Keine Apnoe
– Kein pathologisches Atemmuster
– Keine Zyanose
– Kein Zungenbiss (wenn dann eher apikal)
– Keine Enuresis
– Keine Traumafolgen
Kontext/Auslöser– Nicht aus dem Schlaf heraus
– Beginn durch bestimmte Situation / Stimulus
Dauer & Verlauf– Dauer > 10 Minuten
– Iktales Weinen
– Postiktales Flüstern
Anamnese/Risikofaktoren– Posttraumatische Belastungsstörung
– Missbrauchserfahrung
– Angststörung
– Depression
– Persönlichkeitsstörung
– Rezidivierender Anfallsstatus in der Anamnese

Behandlung

Da die PNEA eben nicht epileptischer Genese sind, ist eine anfallssupprimierende Therapie unwirksam. Benzodiazepine zur „Beruhigung“ haben ebenfalls keinen Stellenwert; sie erhöhen das Suchtpotential. Auch die Verabreichung von Placebo-NaCl oder Ammoniak-Riechampullen ist nicht indiziert. Die Patient*innen sind aus gutem Grund gerade in einer Dissoziation – sie gewaltvoll daraus zu zerren ist vielleicht für uns einfacher, aber für die Betroffenen kontraproduktiv und schädlich.

Bei jeder Statusbehandlung sollte man sich einmal die Frage stellen, ob es sich hier nicht gerade um PNEA handelt und ob wir schaden statt nutzen.

Bei PNEA ist Geduld gefragt, auch im akuten Setting von Rettungsdienst oder Notaufnahme. Wir tun unseren Patient*innen keinen Gefallen, wenn wir sie medikamentös „abschießen“. Viel hilfreicher sind Ruhe, Gelassenheit, Wärme, eine beruhigende Stimme, ein respektvoller Umgang und die Entfernung aus der (auslösenden) Umgebung – das ist bei PNEA unsere eigentliche Toolbox. Ich weiß, das klingt weder spektakulär noch „cool“. Aber genau das ist es, was unseren Patient*innen wirklich hilft. Manche Betroffenen tragen zudem einen Notfallausweis bei sich. Dort ist häufig vermerkt, welche Strategien ihnen individuell guttun, z. B. Musik oder Aromatherapie.

Die Video-Aufzeichnung des Anfalls ist für die behandelnden Ärzt*innen hilfreich.

Eine psychotherapeutische Behandlung, das Führen eines Tagebuches, die Anwendung von Entspannungstechniken und ein gesunder Lebensstil (ausreichender Schlaf, adäquate Flüssigkeitszufuhr, Bewegung, kein Drogenkonsum) helfen längerfristig.

Transportstrategie

Bei erstmaligem Ereignis sollten die Patient*innen in ein Haus mit Neurologie transportiert werden, da eine weitere Diagnostik zum Ausschluss einer epileptischen Genese notwendig ist.

Bei bekannten PNEA und je nach genauer Situation (Anfall beendet, kein Trauma, Begleitung dabei) ist ein ambulanter Verbleib vertretbar.

Es ist verständlich, dass sowohl Betroffene als auch Zugehörige Angst und Sorge haben. Hier ist die unaufgeregte Aufklärung über PNEA sehr wertvoll und entlastend.

Fazit

Die Erkennung von PNEA ist oft herausfordernd. Bestimmte Merkmale erleichtern jedoch die Unterscheidung zwischen epileptischen und nicht-epileptischen Anfällen. Wichtig ist: PNEA dürfen nicht wie epileptische Anfälle behandelt werden. Der Einsatz von Benzodiazepinen oder gar eine Intubation sind hier nicht nur nutzlos, sondern potenziell schädlich. Geduld und Ruhe sind die wirksamsten Mittel im Umgang mit diesen Situationen.

Ausgewählte Literatur

  1. PNEA – Broschüre der Charité for Betroffene und Angehörigen
  2. Kurzhals, Simon: Präklinische Notfallpsychiatrie und Krisenhilfe. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2024

 


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