Disclaimer: Das Folgende ist auch ein Meinungs-, kein reiner Fachartikel. Der Artikel beschäftigt sich nicht mit dem Sonderfall des Alkoholentzugsdelirs.
Einleitung
Wer von uns in einer Notaufnahme arbeitet hat ganz sicher schonmal nachts verzweifelt versucht, eine Lösung zu finden. Der problematische Fall: ein Patient mit einem akuten hyperaktiven Delir – also desorientiert, vielleicht aggressiv, keinen Argumenten zugänglich und Therapien schon mal gar nicht. Auf Station sicher nicht „führbar“, die Pflegekräften sind mittlerweile mindestens genauso so angespannt wie der Patient und die Intensivstation ist voll und ohnehin gehört der Patient doch sowieso nicht zu ihnen. Die Verzweiflungstat: die Unterbringung auf einer geschützten Station der Psychiatrie, auch wenn irgendwie jedem klar ist, dass das keine besonders gelungene Lösung ist. Auch wenn das Delir unter dem Buchstaben F steht, der im Diagnoseschlüssel im ICD-10 den psychischen Krankheiten vorbehalten ist, ist es ein organisches, lebensbedrohliches Krankheitsbild. Leider steht es auch im ICD-11 weiterhin unter den psychischen Krankheiten kodiert.
(…) it never fails to create problems for the physician, nurse, and family. The physician has to cope with the problem of diagnosis (…), and any program of therapy is constantly impeded by the patient´s inattention, agitation, sleeplessness, and inability to cooperate. Nurses are burdened with the need to provide satisfactory care and a safe environment for the patient, and at the same time, maintain a tranquil atmosphere for other patients. The family must be supported as it faces the frightening prospect of a deranged mind with peculiar behaviours and all it signifies.
Ropper et al, Adams and Victor´s Principles of Neurology
Zunächst mal kurzes Begriffe sortieren: Das früher häufig genutzte Wort Durchgangssyndrom sagen wir nicht mehr. Im Englischen kann man sowohl delirium als auch acute confusional state sagen, im Deutschen ist Delir am gebräuchlichsten und als distinktes Krankheitsbild wohl auch am zutreffendsten. Vor Klärung der Ätiologie kann man auch im Deutschen acute confusional state oder das Äquivalent akuter Verwirrtheitszustand benutzen.
Problematisch ist vor allem, dass immer noch viele Begriffe unscharf durcheinander gebraucht werden. Im ICD-10 ist der Begriff Delir unter F05 genannt; er enthält auch veraltete Bezeichnungen wie exogener Reaktionstyp, hirnorganisches Syndrom, psychoorganisches Syndrom, Psychose bei Infektionskrankheit, Verwirrtheitszustand.
Man sollte dabei beachten, dass die Leitlinie empfiehlt, das Delir als eigene Erkrankung zu betrachten. Der akute Verwirrtheitszustand ist als Symptom eines zugrunde liegenden anderen Erkrankungsbildes abzugrenzen. Letztlich sind die Übergänge zwischen beiden eher fließend.
Das Delir und der akute Verwirrtheitszustand sind zwei Ausprägungen auf demselben Kontinuum.
Darüber hinaus schreibe ich bei Festlegung einer klaren Ursache zum Beispiel: „Hyperaktiver akuter Verwirrtheitszustand als Symptom einer septischen Enzephalopathie“.
Was uns klar sein sollte ist, dass das akute Delir die 30-Tage-Krankenhaus-Mortalität von 3,9% auf 22,9% erhöht. Die Sepsis (nicht septischer Schock) ist bei 26,5%, das Polytrauma bei 11,4% (2009-2014). Klar ist die Versorgung eines Polytraumas deutlich spannender, aber der Delir Patient ist in der Notaufnahme genau so richtig wie alle anderen schwer Kranken.
Pathophysiologie und weitere Definition
Was uns noch nicht ganz klar ist: was ist ein Delir eigentlich. Leider gibt es keine wirkliche pathophysiologische Erklärung bisher, aber es existiert ein Erklärungskonzept, was mir persönlich gut gefällt. Es nennt als Ursache der Symptomatik den Verlust der integrativen Funktion des Gehirns zwischen seinen einzelnen Hauptbereichen und den gut lokalisierbaren Elementen des Bewusstseins.
Hauptbereiche des Denkens und lokalisierbare Elemente des Bewusstseins
Hierzu zählen zum Beispiel Aufmerksamkeit, Sensorium und Wahrnehmung, die Fähigkeit zu Denken und zu argumentieren (weniger gut lokalisiert), Emotion, Stimmung und Affekt; Antrieb, Impulsivität und Initiative; soziales Denken so wie Selbstbewusstsein/Selbstwahrnehmung.
Es werden auf zumeist zwei Varianten unterschieden:
- bei Menschen, die keine zerebrale Vorschädigung aufweisen, somit eher als Symptom einer distinktiven Erkrankung – damit als akuter Verwirrtheitszustand zu bewerten
- bei Menschen, die eine zerebrale Vorschädigung aufweisen, zumeist eine dementielle Erkrankung (manchmal noch nicht diagnostiziert) – damit ist dies das klassische Delir
Bei ersterem handelt es sich bei dem akuten Verwirrtheitszustand meines Verständnisses nach vorwiegend um ein Symptom der zugrundeliegenden schweren Erkrankung (zum Beispiel bei septischer Enzephalopathie). In manchen Fällen, gerade bei viralen Enzephalitiden und Schlaganfällen, kann dieser Zustand auch als direkte Folge der Schädigung der neuronalen Netzwerke entstehen. Bei zweiterer Variante können auch „harmlosere“ Ursachen (zum Beispiel ein Harnwegsinfekt) eine höhergradige zerebrale Integrations- und Funktionsstörung auslösen.
Aber: so ganz genau trennen kann man das nicht. Ein Delir ist in vielen Fällen ein Vorbote eines kommenden, progredienten zerebralen Funktionsverlustes, in vorher noch gesund geglaubten Menschen.
In der Leitlinie ist ein Delir folgendermaßen definiert:
Das Delir ist definiert als akut und fluktuierend auftretende Verwirrtheit mit Vorhandensein von Aufmerksamkeitsstörungen und einer vorliegenden organischen Genese.
S1-Leitlinie Delir
Es wird nach ICD-10 ein Delir ohne Demenz (F05.0) von einem Delir bei Demenz (F05.1) wie oben beschrieben unterschieden. Die Zwischenformen werden als gemischtes Delir (F05.8) beschrieben. Darüber hinaus existiert als Sonderform das postoperative Delir.
Unterscheiden muss man auch das Delir/akuten Verwirrtheitszustand von einer fortgeschrittenen Demenz, ggf. noch mit einer Verhaltensstörung. Es handelt sich hierbei um sehr distinkte Krankheitsbilder, die andere Ursachen haben, Behandlungen notwendig machen und Prognosen aufweisen.
Ursachen für ein Delir oder akutes Verwirrtheitssyndrom
In ihren Ursachen ähneln beziehungsweise überschneiden sich das Delir und das Verwirrtheitssyndrom in vielen Fällen deutlich:
Ursachen für ein Delir/akutes Verwirrtheitssyndrom nach klinischen Bild (hypo- vs. hyperaktiv)
- Hypoaktives Delir/Akutes hypoaktives Verwirrtheitssyndrom
- Als Symptom einer systemischen oder sonstigen Erkrankung (keine fokalen neurologischen Anzeichen, Bildgebung und Liquor normal)
- Stoffwechselstörungen (hepatische Enzephalopathie, Urämie, Hypo- und Hypernatriämie, Hyperkalzämie, Hypo- und Hyperglykämie, Hypoxämie, Hyperkapnie, Porphyrie und einige Endokrinopathien, einschließlich steroidresponsiver Enzephalopathie mit Antikörpern gegen Schilddrüsen-Antigene [SREAT] (vorm. Hashimoto-Enzephalopathie)
- Infektiöse Erkrankungen (Pneumonie, Endokarditis, Urosepsis, Peritonitis und andere Erkrankungen, die Bakteriämie und Sepsis verursachen – septische Enzephalopathie)
- Kongestive Herzinsuffizienz oder respiratorische Insuffizienz
- Postoperative und posttraumatische Situationen
- Verursacht durch Intoxikationen/Medikamenteneffekte (keine fokale Neurologie; Hirnbildgebung und Liquor normal): Opiate, Anticholinergika, Sedativa, Trihexyphenidyl, Kortikosteroide, hochpotente Cannabinoide, Antikonvulsiva, L-Dopa, dopaminerge Agonisten, serotonerge Antidepressiva, bestimmte Antibiotika und Krebs-Chemotherapeutika
- Assoziiert mit Erkrankungen des Nervensystems (mit fokaler Neurologie, Auffälliger zerebraler Bildgebung und/oder Liquorveränderungen)
- Zerebrovaskuläre Erkrankung (Ischämien oder Blutungen)
- Tumoren
- ZNS-Infektionen (Meningitis, Enzephalitis, Abszess)
- Subdurales Hämatom
- Zerebrale Vaskulitis
- Hypertensive Enzephalopathie oder posteriores reversibles Enzephalopathie-Syndrom (PRES)
- Eklampsie und Präeklampsie
- Anfallserkrankungen (Status non-konvulsiver Anfälle, postiktaler Zustand)
- Demenz mit Triggern (s. u.)
- Als Symptom einer systemischen oder sonstigen Erkrankung (keine fokalen neurologischen Anzeichen, Bildgebung und Liquor normal)
- Hyperaktives Delir/hyperaktiver akuter Verwirrtheitszustand (mit motorischer, mentaler oder autonomer Hyperaktivität)
- Bei einer systemischen Erkrankung (keine fokalen oder lateralisierten neurologischen Zeichen; Liquor meist klar):
- Pneumonie, Sepsis und Bakteriämie (septische Enzephalopathie), Thyreotoxikose und Kortikosteroidüberschuss (exogen oder endogen), bestimmte spezielle Infektionsfieber wie Typhus und Malaria
- Assoziiert mit Traumata ([postoperativ (häufig nach kardialen Operationen], postkontusionell]
- Bei primär neurologischen Erkrankungen (mit fokaler Neurologie, Auffälligkeiten in der Hirnbildgebung oder Liquorveränderungen):
- Zerebrovaskuläre Erkrankungen (Ischämien oder Blutungen), vor allem temporal oder oberer Hirnstamm
- ZNS-Infektionen (Meningitis, Enzephalitis, Abszess)
- Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) – betrifft in der Regel Minderjährige
- Autoantikörper-Erkrankungen (anti-NMDA, paraneoplastische limbische Enzephalitis; SREAT)
- Entzugssyndrome, v. a. Alkoholentzugssyndrom, Benzodiazepinentzug
- Psychosen oder Manie
- Demenz mit Triggern
- Bei einer systemischen Erkrankung (keine fokalen oder lateralisierten neurologischen Zeichen; Liquor meist klar):
Ursachen aufgeteilt nach eher Delir vs. eher akutes Verwirrtheitssyndrom
| Häufige Ursachen für ein Akutes Verwirrtheitssyndrom bei Nicht-Demenzerkrankten | Häufige Ursachen für ein Akutes Verwirrtheitssyndrom bei Demenzerkrankten |
| Virus-Enzephalitiden | Infekt (Pneumonie, Harnwegsinfekt) |
| Hirninfarkte (Thalamus, temporal) | Exsikkose |
| Septische Enzephalopathie | „Setting-Wechsel“ |
| Hepatische/urämische Enzephalopathie | Medikamentennebenwirkung |
| Status non-konvulsiver Anfälle | Herzinsuffizienz |
| Alkoholentzugssyndrom | Traumata jeder Art |
| Hypo- und Hypernatriämie | |
| Niereninsuffizienz/urämische Enzephalopathie |
Trigger für ein Delir bei zerebraler Vorschädigung
Keine vollständige Liste, für delirogene Medikamente siehe unten
| Settingwechsel |
| Infekte (pulmonal, urogenital), vor allem fieberhafte |
| prodelirogene Substanzen (Anticholinergika, Benzodiazepine, Antihistaminika, Kortikosteroide) |
| Schmerzmittel |
| Herzinsuffizienz |
| Anämie |
| Operationen, Stürze, sonstige Traumata vor allem mit Hirnkontusionen |
| Hypo- und Hypernatriämie |
| Exsikkose |
| usw. |
Potentiell delirogene Medikamente
- Anticholinergika (z. B. Biperiden, Trihexyphenidyl, Doxylamin)
- Benzodiazepine (z. B. Diazepam, Lorazepam, Midazolam)
- Opioide (z. B. Morphin, Fentanyl, Oxycodon)
- Antihistaminika, insbesondere H1-Blocker der ersten Generation (z. B. Diphenhydramin, Dimenhydrinat)
- Antipsychotika, früher Neuroleptika genannt (hochpotente, insbesondere ältere Substanzen) (z. B. Haloperidol, Chlorpromazin, Levomepromazin)
- Antidepressiva (insbesondere Trizyklika) (z. B. Amitriptylin, Doxepin, Clomipramin)
- Dopaminergika (z. B. L-Dopa, Pramipexol, Ropinirol)
- Glukokortikoide (z. B. Prednisolon, Dexamethason, Methylprednisolon)
- Antikonvulsiva (z. B. Valproat, Phenytoin, Carbamazepin)
- Antidementiva (Memantin, Donepezil, Rivastigmin, Galantamin)
Fazit
Das Delir und das akute Verwirrtheitssyndrom sollten ernst genommen und somatisch (ggf. intensivmedizinisch) behandelt werden. Auch wenn die Versorgung von Delir Patient*innen sich oft frustrierend und kompliziert gestaltet, hoffe ich, dass euch eine leitliniengerechte und gewissenhafte Behandlung gelingt.
Das Delir aber auch das akute Verwirrtheitssyndrom weisen eine hohe Mortalität und Morbidität auf. Die Ursachen für beides überlappen sich deutlich. Die Patient*innen sollten nicht in die Psychiatrie „abgeschoben“ werden.
Ausgewählte Literatur
- Lehnert, Marzi. Polytrauma. Die Intensivmedizin. Springer Medizin. https://www.springermedizin.de/emedpedia/detail/die-intensivmedizin/polytrauma?epediaDoi=10.1007/978-3-642-54675-4_8
- Zoremba N, Coburn M: Acute confusional states in hospital. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 101–6. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0101
- Bauer, M., Groesdonk, H.V., Preissing, F. et al. Sterblichkeit bei Sepsis und septischem Schock in Deutschland. Ergebnisse eines systematischen Reviews mit Metaanalyse.Anaesthesist 70, 673–680 (2021). https://doi.org/10.1007/s00101-021-00917-8
- Maschke M. et al., Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir, S1-Leitlinie, 2020, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 31.08.2025)
- Hufschmidt, Andreas; Rauer, Sebastian; Glocker, Franz Xaver (Hrsg.): Neurologie compact. Für Klinik und Praxis, 9. Auflage, Stuttgart 2022, Georg Thieme Verlag
- Diener H. et al. Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 8. Auflage Stuttgart: Kohlhammer; 2023
- Ropper, Allan H., et al. Adams and Victor’s Principles of Neurology. 12th ed., McGraw-Hill Education, 2023
Haftungsausschluss
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