Der akute Verlust des Augenlichtes auf einer, oder im schlimmsten Fall auf beiden Seiten hat gravierende Folgen für die Lebensqualität. Entsprechend stellen akute Visusminderungen ebenso ernste Notfälle wie Herzinfarkte, die Sepsis oder Schlaganfälle dar.
Der Fokus in der Präklinik und Notaufnahme liegt auf der Differenzierung der Ursachen und der Einleitung von Therapien oder notfallmäßigen Zuweisung zu entsprechenden Fachdisziplinen, die eine akute Therapie durchführen können.
Die häufigsten Ursachen für plötzlichen Sehverlust
- Zentralarterienverschluss (ZAV) – Verschluss der den Sehnerv versorgenden A. zentralis retinae („Schlaganfall im Auge“)
- Amaurosis fugax – kurzzeitiger Verschluss der den Sehnerv versorgenden A. zentralis retinae („TIA im Auge“)
- (Arteriitische) anteriore ischämische Optikusneuropathie (AION) – Minderdurchblutung der Sehnervenpapille durch eine Entzündung der Gefäße, typischerweise bei einer Riesenzellarteriitis
- nicht-arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie (NAION) – Minderdurchblutung der Papille (vor allem im Schlaf) vermutlich durch eine Hypotension bei vorbestehender grenzwertiger Durchblutung durch sog. „crowded disk“
- Zentralvenenverschluss – Verschluss der Zentralvene des Auges
- Schlaganfall im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri posterior (PCA)
- Papillenödem/Stauungspapille bei erhöhtem intrakraniellem Druck – Ausgelöst durch Druckschädigung des N. optikus durch erhöhten intrakraniellen Druck
- Netzhautablösung – typischerweise nicht das gesamte Gesichtsfeld beeinträchtigt
- Glaukomanfall – akut erhöhter Augeninnendruck
- Glaskörperblutung – Einblutung in die Gallertmasse im Kern des Augapfels
- Endophthalmitis – Entzündung des Glaskörpers des Auges
- Optikusneuritis/Retrobulbärneuritis – Entzündung des Sehnervs
- Intoxikationen (z. B. mit Methanol)
Erstmal ist diese Liste natürlich keine vollständige Liste, aber sollte für den Hausgebrauch reichen. Eine wichtige Frage ist natürlich, wie wir diese Erkrankungen schnell differenzieren. Am besten geht das zunächst durch Anamnese, Untersuchung und anhand von Begleitsymptomen:
Einseitig | Beidseitig | Sonderfall |
---|---|---|
ZAV | Intoxikationen | Schlaganfall PCA |
Amaurosis fugax | Papillenödem/Stauungspapille bei erhöhtem intrakraniellem Druck | |
AION | Optikusneuritis | |
NAION | ||
Zentralvenenverschluss | ||
Netzhautablösung | ||
Glaukomanfall | ||
Glaskörperblutung | ||
Endophthalmitis |
Sonderfälle
Schlaganfall PCA: gleichseitiger Gesichtsfeldausfall auf beiden Augen
Papillenödem/Stauungspapille bei erhöhtem intrakraniellem Druck: klassische Stauungspapille per definitionem bds., bei Tumoren je nach Lokalisation auch einseitig
Optikusneuritis: zumeist einseitig, bilateral im Rahmen von Neuromyelitis optica Spektrumerkrankungen
Klinische Begleitbefunde
pathognomonische Befunde/Begleitsymptome | Erkrankungen |
---|---|
Schmerzloses Auge | ZAV und Amaurosis fugax AION1 NAION Netzhautablösung Glaskörperblutung Schlaganfall2 Stauungspapille3 Intoxikationen Zentralvenenverschluss |
Schmerzhaftes Auge | Optikusneuritis/Retrobulbärneuritis4 Glaukomanfall Endophthalmitis |
Akute Sehminderung (innerhalb von Sekunden) | ZAV Amaurosis fugax AION NAION Netzhautablösung Glaskörperblutung Schlaganfall PCA Zentralvenenverschluss Glaukomanfall5 |
Subakute Sehminderung | Stauungspapille Intoxikationen Optikusneuritis/Retrobulbärneuritis Endophthalmitis |
Rötung des Auges | Endophthalmitis Glaukomanfall |
Geschwollenes Auge | Endophthalmitis6 |
Kopfschmerzen | Hirninfarkt PCA AION Stauungspapille |
Weitere fokal-neurologische Defizite möglich | Hirninfarkt PCA Stauungspapille sehr selten AION |
Cave:
1 Im Auge schmerzlos, neuartige Kopfschmerzen, vor allem temporal
2 PCA-Infarkte machen in 30%-Kopfschmerzen
3 Auch hier gibt es Kopfschmerzen
4 Vor allem bei Augenbewegungen („Bulbusbewegungsschmerz“)
5 Eher in Minuten in
6 Das Auge kann geschwollen wirken durch Schwellung der Lider, der Bulbus selber ist meist nicht geschwollen.
Spezifische Untersuchungen
Augenhintergrundspiegelung:
- ZAV
- AION
- NAION
- Amaurosis fugax
- Zentralvenenverschluss
- Optikusneuritis
- Stauungspapille
Notfallmäßige kranielle Bildgebung:
- Amaurosis fugax
- AION
- NAION
- Schlaganfall im Versorgungsgebiet PCA (inklusive Angiographie)
- Papillenödem/Stauungspapille
Mehr zur spezifischen Differentialdiagnostik und Therapie im Teil 2.
Dispositionsstrategie Rettungsdienst
Für den Rettungsdienst ist die Dispositionsstrategie erfreulicherweise relativ einfach und sicher anhand der folgenden Kriterien durchzuführen:
Neurologie | Augenklinik |
---|---|
Einseitiger Visusverlust ohne weitere Symptome oder mit – Augenbewegungsschmerz – Kopfschmerzen | Akuter einseitiger Visusverlust mit – deutlicher Rötung des betroffenen Auges oder – deutlicher Schwellung des betroffenen Auges – Schmerzen im Auge (außer betonten Schmerzen bei Bewegung des Auges) |
Klinikzuweisungsstrategie in der Notaufnahme
Sinnhafte weiterversorgende Klinik | Krankheitsbild |
---|---|
Neurologie | ZAV am besten mit vorhandener Augenklinik1 Papillenödem/Stauungspapille Optikusneuritis/Retrobulbärneuritis |
Stroke Unit | Amaurosis fugax AION & NAION (je nach lokalem Protokoll auch auf peripherer Station) Schlaganfall im Versorgungsgebiet der PCA |
Augenklinik | Zentralvenenverschluss Netzhautablösung Glaukomanfall Glaskörperblutung Endophthalmitis |
Innere Medizin/Intensivstation | Intoxikationen (z. B. mit Methanol) |
1 Danach auf Stroke Unit
Fazit
Der akute Visusverlust ist allein aufgrund seiner verheerenden Folgen und häufig irreversiblen Ätiologie ein dringlicher Notfall. Bereits präklinisch kann durch die richtige Weichenstellung viel für die weitere Versorgung des Patienten getan werden.
Ausgewählte Literatur
- Tabea Rebecca Beyer, PD Dr. Christian van Oterendorp. Nichtarteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie (nAION), Springer Medizin, Die Ophthalmologie, Ausgabe 18. Oktober 2023. https://doi.org/10.1007/s00347-023-01938-x.
- Diener H. et al. Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 8. Auflage Stuttgart: Kohlhammer; 2023
- Hufschmidt A., Rauer S., Glocker F. Neurologie compact. 9. vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart, Thieme; 2022
- Patten J. Neurologische Differentialdiagnose. 2. Auflage, Springer Verlag Berlin, Heidelberg; 1998
- Roper A. et al. Adam´s and Victor´s Principles of Neurology. 12. Auflage, McGraw Hill, New York; 2023
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